Die Geschichte des Berner Münsters widerspiegelt die politischen Entwicklungen und wirtschaftlichen Verhältnisse Berns. Die Stadt war 1191 durch die Herzöge von Zähringen gegründet worden und seit der Verleihung der Handfeste 1218 freie Reichsstadt.
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts war Bern eine noch vergleichsweise kleine Stadt mit nur etwa 5000 Einwohnern. Sie war seit ihrer Gründung 1191 von der Untertorbrücke/Burg Nydegg über den Zytglogge und den Käfigturm langsam bis zum Christoffelturm beim heutigen Bahnhof gewachsen. Höfe und Gärten hinter den Häusern machten einen grossen Teil der städtischen Fläche aus. In diesem Sinne war die Stadt sehr viel „ländlicher“, als wir uns das heute von einer Stadt gewohnt sind. Dies gilt nicht zuletzt für die Gerüche und den Lärm.
Im Laufe des 14. Jahrhunderts hatte sich die Stadt schon grosse Teile des heutigen Kantonsgebiets machtpolitisch verbunden – wenn auch erst locker und mediatisiert über Vermittlungsinstanzen und nicht im Sinne der neuzeitlichen Landeshoheit. Bern war also bereits weit mehr als nur die Stadt in der Aareschlaufe – es zeichneten sich aber erst die Umrisse des später mächtigen Stadtstaates ab. Mit der Eroberung des Aargaus 1415 und der Verleihung königlicher Privilegien durch Sigismund von Luxemburg-Böhmen im selben Jahr, konnte die Stadt ihre Unabhängigkeit ausbauen und verfügte unmittelbar vor dem Münsterbau über ein ausgedehntes, im Osten von den eidgenössischen Bündnispartnern gesichertes Territorium.
Diesem politischen Aufstieg entsprach lange keine kirchliche Selbständigkeit. Die erste Stadtkirche, bereits am Ort des heutigen Münsters, war eine Filialkapelle eines seit etwa 1150 in Köniz niedergelassenen Augustinerstifts. Sie war – wie später das Münster – dem hl. Vinzenz geweiht. Kaiser Friedrich II. überschrieb Köniz 1226 den Deutschordensrittern, die somit auch die Kirchenrechte in der Stadt übernahmen. 1276 wurde die schnell wachsende Stadt als eigenständige Pfarrei von Köniz abgetrennt, was Anlass zum Bau einer neuen, grösseren Leutkirche gab. Unterdessen hatten bereits die Franziskaner und Dominikaner in Bern Klöster gegründet, was die Bedeutung der Stadt illustrierte.
Ein grosser Brand verheerte 1405 die Stadt Bern und legte gegen 1/3 der Bebauungen in Asche. Dieser Stadtbrand gab den Anstoss, weite Teile der Stadt im Verlaufe der nächsten Jahre nach einer neuen urbanen Planung vorzugsweise in Stein und mit den Laubengängen wieder aufzubauen. Zum “Neubauprogramm” gehörten ein neues Rathaus, das dem Stolz der wachsenden und blühenden Stadtgemeinde Ausdruck verlieh, aber auch grosszügigere Stadthäuser, die dem Repräsentationsbedürfnis der zu Reichtum gelangten Kaufleute und des Adels entsprachen.
Die Wiederherstellungsarbeiten hatten einen Aufschwung des Bauwesens zur Folge und brachten zahlreiche auch ausländische Bauleute in die Aarestadt. Mit dem Wiederaufbau regte sich wohl auch der Wunsch nach einem neuen, der Stadt würdigen Gotteshaus. Zu diesem Zweck berief man 1420 den aus einer süddeutschen Baumeisterdynastie stammenden Matthäus Ensinger nach Bern und legte 1421 den Grundstein zum Berner Münster. Die Stadt Bern war überdies bestrebt, die kirchlichen Angelegenheiten grundsätzlich vermehrt in eigene Hände zu nehmen. Sie war Bauherr und wichtigster Geldgeber des Münsters. Deshalb schlugen sich politische und wirtschaftliche Veränderungen jeweils direkt im Baugeschehen nieder.
Seit Anbeginn bestand die Möglichkeit, den Münsterbau durch private Stiftungen zu fördern. Besonders ab den 1440er-Jahren liessen verschiedene wohlhabende Familien ihre privaten Seitenkapellen erstellen, wovon zahlreiche Gewölbeschlusssteine und Glasmalereien zeugen. Nach der Jahrhundertmitte half zunehmend auch das gemeine Volk den Bau voranzutreiben; das ab 1448 geführte St.-Vinzenzen-Schuldbuch gibt hierüber Auskunft. 1476 erhielten die Berner die päpstliche Befugnis zur Ausstellung von Ablassbriefen.
Die Kirchen in der Stadt Bern unterstanden seit alters den in der Stadt ansässigen Bettelorden, oder die Leutkirche seit dem 13. Jahrhundert dem in Köniz ansässigen Deutschen Ritterorden. Für den Rat, der den Münsterbau vorantrieb, war dies im Falle der bernischen Hauptkirche besonders stossend, dass er hier nicht selbst das Patronatsrecht ausüben konnte. Er wurde 1484/85 deshalb – selbstbewusst nach den erfolgreich geführten Burgunderkriegen – beim Papst in Rom vorstellig und erwirkte bei diesem die Schaffung eines unabhängigen Chorherrenstifts für das Münster, das Chorherrenstift St. Vinzenz, ein Kollegiatskapitel von 24 Chorherren. Dieses Chorherrenstift unterstand weitgehend seiner Kontrolle, indem der Rat über die Berufungsrechte für die Chorherrenstellen verfügte. Der Rat machte damit die Hauptkirche, in deren Neubau die Stadt grosse Mittel investierte, zu einer von ihm kontrollierten Institution. Die Deutschordensherren wurden aus dem Münster und aus ihrem Stiftsgebäude, das sich an der Westseite der Münsterplattform befand, vertrieben. Bern entzog sich so dem Einfluss der Bistümer Lausanne und Konstanz, deren Grenze die Aare bildete, und sicherte sich die direkte Mitsprache in kirchlichen Geschäften.
Noch 1517 brachte die zutiefst katholisch geprägte, prächtige Ausstattung des Münsterchors mit dem “Himmlischen Hof” und dem Chorgestühl das stolze Selbstverständnis Berns als zu Macht und Bedeutung gelangter Stadtstaat bildlich Ausdruck. So liess der Rat das Berner Wappen gleich mehrfach und an zentraler beziehungsweise tragender Stelle im Chorgewölbe anbringen. Teilte er damit die Botschaft mit, dass er einerseits Wohlergehen und Erfolg des bernischen Staates mit dem Wirken und dem Schutz Gottes und seiner Heiligen verband und den Aufstieg als ein Zeichen göttlichen Wohlwollens deutete – und zugleich, dass der bernische Staat mit seiner Macht die heilige Kirche Gottes auf Erden stützte?
Die ersten Anzeichen der Reformation machten sich in Bern 1522 bemerkbar – also zeitgleich wie in Zürich - durch einzelne Prediger, die nicht mehr den üblichen Messegottesdienst abzuhalten bereit waren, sondern sich alleine auf das Schriftprinzip beriefen. Die Regierung, der Kleine Rat, der sich aus den wohlhabenden alten Familien zusammensetzte, blieb lange bei der Position der Altgläubigen und strebte eine Reform der bestehenden katholischen Kirchenstrukturen und religiösen Pflichten an. Demgegenüber fanden im Rat der 200, in dem alle Schichten der Stadtbürgerschaft vertreten waren, die Anliegen der Reformation immer mehr Anhänger. So hoben letztendlich 13 von 16 Zünften im November 1527 ihre Mess- und anderen kirchlichen Stiftungen unter Berufung auf die Heilige Schrift auf und nahmen damit Abstand von den Bräuchen der katholischen Kirche. In den Jahren zuvor hatte die Agitation zugunsten der Reformation immer mehr Erfolge zu verzeichnen gehabt, z. B. durch die verschiedenen antipäpstlichen Fastnachtsspiele von Niklaus Manuel, der wenige Jahre zuvor noch an der Ausgestaltung des Chorgewölbes mitgewirkt hatte.
Schliesslich versuchte der Kleine Rat den Weg einer geregelten Einführung der Reformation zu beschreiten. Denn die Bewahrung seiner Herrschaft und zu diesem Zweck die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung bei einem hochemotionalen Thema, das tief in die Lebenswelt der Menschen eingriff, waren das oberste Anliegen des Kleinen Rates. Erst nach der Durchführung einer ordentlichen Disputation mit der Beteiligung des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli erliess er im Januar 1528 das Mandat zur Einführung der Reformation.
Ein Grund für die Zurückhaltung des Kleinen Rates bei der Einführung der Reformation war der Widerstand gegen den “neuen Glauben”, der sich aus dem Berner Oberland bemerkbar machte und der drohte, den bernischen Staat buchstäblich zu zerreissen, indem die Oberländer sich mit den Innerschweizern verbanden. Tatsächlich konnte die Reformation im Oberland 1528 nur durch Androhung des Einsatzes von Waffengewalt eingeführt werden.
Die Reformation brachte mittelfristig eine Stärkung der Staatsgewalt mit sich, da nun die weltliche Obrigkeit auch die Angelegenheiten der Kirche, von Sitte und Zucht sowie der Bildung kontrollierte und nicht zuletzt auch den Besitz der Kirche einzog bzw. über dessen weitere Nutzung entschied.
Die Reformation krempelte das kirchliche Leben auch im Münster weitgehend um. Der «Bildersturm» Ende Januar 1528 brachte – weitgehend von der Obrigkeit geordnet – die Entfernung der Altäre, Heiligenbilder und Reliquien aus dem Kirchenraum mit sich. Teils wurden diese als Schuttmaterial in der Münsterplattform entsorgt, teils wurden sie in einem geordneten Verfahren von den Stiftern abgebaut und zurückgenommen. Zwingli tendierte – viel stärker als Luther – zu einer «Entsinnlichung der Religionspraxis»: gegen die Heiligenverehrung, die Bilder, aber auch die Orgel. Er hatte die Heiligenbilder in seiner Schlusspredigt zur Disputation als «Dreck und Unrat» bezeichnet und gegen die «Dummheit des Heiligenkults» gewettert, der die Menschen vom richtigen Glauben wegführe, weil sie stattdessen «Götzen» anbeteten.
Der Hauptaltar in Chor wurde ebenfalls entfernt und durch den Taufstein ersetzt: Dies unterstrich die hervorgehobene Bedeutung der Taufe in der reformierten Kirche – Zeichen der Aufnahme in die Gemeinde –, und die Ablösung der heiligen Messe durch den Wortgottesdienst, der von der Kanzel herab gehalten wurde. Das andere zentrale Element des reformierten Gemeindeverständnisses, der Abendmahlstisch, kam nach der Eroberung der Waadt 1561 aus der Kathedrale von Lausanne, wo er als Hochaltarstein gedient hatte, ins Münster. Im Unterschied zur katholischen Kirche durften alle Gemeindemitglieder, und nicht nur der Klerus, vollständig an den Gaben des Abendmahls teilnehmen (sogenannter Laienkelch), was zu einem wichtigen Unterscheidungsmerkmal zwischen reformierter und katholischer Kirche wurde.
Erstaunlicherweise bewahrte man das Hauptportal mit dem Jüngsten Gericht fast vollständig vor jeglicher Zerstörung.
Dem Bauerhalt gelten seit dem mittleren 17. Jahrhundert zahlreiche Massnahmen, die von sorgsamen Pflegearbeiten bei stark exponierten Bauteilen bis zu komplettem Ersatz führten. Die Kontinuität der Betreuung war durch das Amt des Münsterwerkmeisters sichergestellt, der als “Kantonsarchitekt” den 1. Rang besetzte, vor den Werkmeistern Stein- und Holzwerks.
Mit der Eroberung der Waadt im Jahre 1536 erreichte der bernische Stadtstaat seine grösste Ausdehnung. Innerhalb der Eidgenossenschaft war Bern damit weitab der flächenmässig grösste und mächtigste Stand.
Mitte des 16. Jahrhunderts steht der bernische Staat damit gefestigt da: Das Territorium ist arrondiert, die Strukturen der weltlichen Herrschaft in Gestalt der Organisation der Landesverwaltung, aber auch die reformierte Staatskirche sind etabliert. Der mächtige bernische Stadtstaat, der bedeutendste Stand der Eidgenossenschaft, brachte sein Repräsentationsbedürfnis bei der Fertigstellung des Münsters (Mittelschiffgewölbe, unteres Oktogon) zum Ausdruck, indem er mit Daniel Heintz d. Ä. einen Werkmeister von internationalem Rang nach Bern rief.
Erst im Mai 1571 schloss der Berner Rat mit Werkmeister Daniel Heintz d. Ä. einen Vertrag über die Einwölbung des Mittelschiffs, was auszuführen sich dieser anerboten hatte. Er liess, wie Pfister ein halbes Jahrhundert früher bei der Wölbung des Chors, sämtliche Werkstücke vorfabrizieren, so dass erst 1573 das Gerüst den Gottesdienst unterbrach. Das Grossunternehmen der Einwölbung im Stil der Spätgotik wurde in kürzester Zeit durchgeführt. Nach der Dekoration durch Maler Martin Krumm konnte das Gerüst noch im Herbst 1573 abgebaut werden. Ausserordentlich war seine stupende Begabung, perfekte spätgotische Gewölbe, komplizierte Zierarchitekturen aus Wimpergen und Kielbögen zu bauen, gleichzeitig aber souveräne Renaissancefassaden und -Kleinarchitekturen von grosser Ausdruckskraft zu gestalten. Seine erste grossartige Leistung in dieser Hinsicht und gleichzeitig ein bezeichnendes Signal der Modernität der bernischen Auftraggeber war der Renaissancelettner im Münster selbst, 1864 aus Anlass eines Sängerfestes leider abgebrochen.
1575 legte Daniel Heintz d. Ä. dem Rat auch einen Plan zum Bau des steinernen Turmhelms vor. Darauf kam der Rat erst 1592 zurück. Drei Viertel der nötigen Turmwerkstücke waren gehauen, als Heintz 1596 unerwartet verschied. Man erinnerte sich zweifellos der Probleme zu Beginn des Jahrhunderts und trat auf die Bereitschaft des Sohnes, Daniel Heintz d. J., den Turm fertig zu stellen. Der unfertige Turm war auch später Stein des Anstosses.
Das 19. Jahrhundert war eine Zeit beschleunigten Wandels unter dem Zeichen der Industrialisierung, besonders seit dem Anschluss Berns ans Eisenbahnnetz in den 1850er Jahren. Alleine in der 2. Hälfte des Jahrhunderts verdoppelte sich die Bevölkerung der Stadt. Diese Wandlungsbeschleunigung rief auf der anderen Seite das Verlangen auf den Plan, sich der eigenen Identität historisch zu versichern. Im späteren 19. Jahrhundert dienten dazu unter anderem historische Erinnerungsfeierlichkeiten im Zeichen des Patriotismus. Aber auch architektonisch setzte man im Zeichen des Historismus erinnerungspolitische Akzente in Bern: so 1892-94 mit dem “mittelalterlichen” Schlossbau des Historischen Museums, der Errichtung des Casinos zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Stil des spätbarocken Klassizismus, oder eben mit der Fertigstellung des Münsterturms 1891-93 im neogotischen Stil. Nicht zufällig war es auch die Zeit, in der die Heimatschutzbewegung ihre erste Blüte erlebte.
Die vom Münsterbauverein durch einen patriotischen Aufruf an die Berner Bevölkerung in Weg gesetzte Fertigstellung des Münsterturmes in den Jahren 1891-93 im neogotischen Stil rief die Epoche von Matthäus Ensinger in Erinnerung, des ersten Werkmeisters des Münsters. Man wollte, nach gut 300 Jahren Unterbruch im Zeichen der historischen Rückbesinnung und des Historismus “die Ehrenschuld Berns an seine alte, ruhmreiche Vergangenheit” einlösen.